Wahrheit ist nicht dekonstruierbar – Prof. Seubert zum Phänomen des Postevangelikalismus
Unser Netzwerkmitglied Prof. Dr. Harald Seubert hat in einer Videobotschaft und einem ausführlichen Artikel die Gefährdungen der Strömung des sog. „Postevangelikalismus“ analysiert.
Artikel in Textform
Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift diakrisis erschienen. Wir danken der Redaktion der diakrisis für die freundliche Genehmigung des Abdrucks.
Postevangelikalismus:
Kritik eines Irrwegs
Harald Seubert
I Der Denkansatz des Postevangelikalismus: Zeitprinzipien oder Gottes Wort
„Es scheint kaum einen Bereich säkularer Populärkultur zu geben, der nicht von Evangelikalen aufgegriffen und adaptiert wurde“,[1] so konstatiert ein kompetenter Beobachter des Evangelikalismus der letzten beiden Jahrzehnte. Die durch Diversität, Dekonstruktionen und Neukonstruktionen – man denke an die Gender-Ideologie –, durch Multioptionsgesellschaften, Individualisierung und Relativierung ausschließlicher Ansprüche gekennzeichneten Postmoderne-Tendenzen[2] sind längst in evangelikalen Milieus angekommen. In der teilweise exaltierten, wenig rationalen Sprache jüngerer Exponenten des sogenannten Postevangelikalismus begegnen seit den 2000er Jahren Titel, wie ‚What Would Jesus deconstruct‘[3] oder ‚Why Evangelicals Must Embrace Postmodernity‘.[4] Wie der gehetzte Hase im Märchen jagen die neuen postevangelikalen Strömungen dem Igel der postmodernen Leitströmungen nach. Sie müssen sich nicht verwundern, wenn sie dann als stereotype Antwort hören: „Ich bin schon da!“.
„Postevangelicalism“ ist attraktiv -, obwohl diejenigen, die die neue Richtung propagieren , typisch postmodern-ironisch hinzufügen: „was immer das bedeutet“. Der bedeutende französische Schriftsteller Emmanuel Carrère sagte einmal, der Weg zum Glauben habe ihm gezeigt, dass seine Generation in postmodernen Diskursen aufgewachsen sei, die jede These mit einem ironischen Grinsen im Gesicht verbunden habe.[5] Hier stehen sie, sie können auch anders. Diese Geste, die ein Glaubenszeugnis, dem es ernst ist, hinter sich lassen wird, ist im Postevangelikalismus längst angekommen.
Die nicht trennscharfe Vagheit im Neoevangelikalismus-Begriff kommt nicht von ungefähr. Wie eine Untersuchung von Nola Myles verdeutlicht, [6] bewegt sich das Selbstverständnis der Postevangelikalen in einem „sowohl als auch“, „einerseits so, andrerseits anders“, was eine Mittelposition bezeichnen soll, freilich eine, die den Grund der Heiligen Schrift verloren hat, so dass bestenfalls ein menschlicher Kompromissweg die Antwort ist.
Genannt werden bevorzugt die folgenden elementaren Richtlinien des Postevangelikalismus, die ich, wo erforderlich, unmittelbar nach der Nennung kurz kommentiere: Postevangelikale fühlen eine Entfremdung (man achte auf das Gefühlssinnbild!) vom „klassischen“ Evangelikalismus, möchten aber gewisse evangelikale Einsichten und Überzeugungen festhalten; (2) Sie bejahen die Realität der göttlichen Wahrheit, nehmen aber an, dass es im menschlichen Leben keine Gewissheiten gibt. Wie soll das eine mit dem anderen zusammengehen? So wenig man die Begrenzung und Perspektive des menschlichen Wahrheitszugangs bestreiten kann, so gefährlich ist eine Relativierung dieser umgreifenden, umfassenden Wahrheit, die als Demut verbrämt wird.[7] (3) Der Postevangelikale nähert sich der immer entzogenen Wahrheit über Symbole, Geheimnisse und Imagination an. Falsch wird diese Einsicht, wo nicht zwischen Gottes Wort und der Anerkenntnis seines Heilsweges und menschlichen Worten unterschieden wird. (4) Die Bibel soll so gelesen werden, als würde sie Gottes Wort vermitteln, nicht aber Gottes Wort sein. Dabei berufen sich Postevangelikale auf die Schriftauffassung Karl Barths,[8] vor allem aber setzen sie das „proklamierte Wort Gottes in der Kirche“, Jesus Christus als Mensch gewordenes Gottes Wort (Logos) und die Bibel als verschriftlichtes Gottes Wort ohne Hierarchieunterscheidung als drei Säulen nebeneinander. Dies führt zu einer Verwirrung, die dem menschlichen Proklamationszeugnis dieselbe (in der Praxis sogar ein höhere) Autorität zuweist als der Heiligen Schrift. (5) Dezidiert bejahrt wird dabei „critical scholarship“ also die historisch-kritische Methode, wobei kontinuierliche Reinterpretation der Bibel zu deren Glaubwürdigkeit beitrage. Fromm verbrämt kommt damit eine umfälschende Haltung zum Zug, die Gottes Wort auf einen Erkenntnisgegenstand neben anderen reduziert, und es nicht als Erkenntnisgrund aller Theologie und Verkündigung würdigt.[9] (6) Die Rede ist von einer „critical affirmation“ von orthodoxen Glaubensüberzeugnissen. Dies klingt, ob bewusst oder unbewusst, an Walter Benjamins Formulierung von der „rettenden Kritik“ an. Verfehlt ist dieser Impetus, weil sich die eigene Position als kritische Instanz der Bekenntnistraditionen darstellt, ohne umgekehrt sich von Bibel und Bekenntnis kritisieren zu lassen. (7) Besonderer Enthusiasmus wird darauf gelegt, „sich positiv in der gegenwärtigen Kultur“ zu engagieren.[10] Hier zeigt sich der „Temporalismus“ (D. v. Hildebrand), eine Zeitgeisthörigkeit, verbunden mit dramatischer Unkenntnis: Christlicher Glaube formte die europäische Kultur durch mehr als zwei Jahrtausende. Die Gegenwart nährt sich noch immer von den Brosamen dieser Kultursynthesen.[11] Selbst ihre Dekonstruktionen zehren noch von den großen Verbindungen griechischen Geistes und biblischer Wahrheit. Christen sollten gerade nicht, dem gehetzten Hasen gleich, den postmodernen Mainstreamkulturenr hinterherlaufen, sondern sie aus der Perspektive des ihr auf ewig anvertrauten Wortes Gottes einer kritischen Revision unterziehen. (8) „Fragen“, „gemeinsam Unterwegs-sein“ hat absoluten Vorrang in der Lehre, denn es ist, wie Nigel Wright betont, ein Zeichen von Reife. Theologische Lehre ist indes nicht beliebig formbar. Sie ist gebunden an Gottes Wort und an die Autorität der Bekenntnisse. Die alte Kirche ging nicht ohne Grund von der Erfahrung aus, dass das neue in der Lehre meist das falsche und häretische ist. Übrigens ist auch philosophisch- metaphysisches Fragen nicht um des Fragens willen von orientierender Kraft, sondern weil dieses Fragen aus den Annahmen in den Grund führt, zum nicht-relativen Grund.
Wenn man gegenüber solchen Prämissen als klassischen evangelikalen Zugang, in Konkordanz mit den Prinzipien der Reformation, die verbindliche Annahme der Bibel als Gottes Wort, die christozentrische Perspektive und die persönliche Annahme des Glaubens auf dem Weg zur Heiligung versteht, wird deutlich, dass der „Postevangelikalismus“ die Identitätsmerkmale des Evangelikalen, bzw. der Bindung an Bibel und Erkenntnis preisgeben hat. Dabei dürfte das „Post“ in der Selbstbezeichnung als Überlegenheitsgeste gemeint sein, die das Vergangene seit den Schleitheimer Artikeln und dem II. Helveticum als Vorgeschichte hinter sich gelassen hat und nun für unsere Zeit die Grundhaltung neu ans Licht bringt.
II Symbolismus oder Offenbarung
Es wird nicht verwundern, dass die Verformung der Treue zu Bibel und Bekenntnis vor einem solchen Ausgangspunkt weit reicht. Die Frage nach der einen, bindenden Offenbarungswahrheit wird als „alt“ und obsolet charakterisiert, moralische und dogmatische Gewissheiten zählen nichts, die Lehren des Bekenntnissen werden durch „situative Urteile“ und Empfindungen ersetzt. Man meint allen Ernstes, die Befreiung von restriktiven moralischen Forderungen der Bibel und der Verbindlichkeit der Offenbarungswahrheit feiern zu müssen.[12] Dass Jesu Kreuzestod als Symbol der Liebe Gottes gedeutet wird, nicht als „ein für alle Mal“ geschehene Heilstatsache, ist eine weitere charakteristische postevangelikale Häresie.
Die Bibel ist, wie der einflussreiche postevangelikale britische Pastor Thomlinson sagt, „a form of symbolic revelation“, [13] aber eben nicht das irrtumslose, aus der Ewigkeit gesprochene wahre Wort Gottes. Sie ist Anlass zu Meditationen und „Navigationen“ im eigenen Leben. Die Schrift ist damit auch nur eine Weise neben anderen, in der Gott zu den Menschen spricht.[14]
Charakteristisch ist neben dem „Sowohl als auch“ ein „Entweder-Oder“, in dem sich postmoderne Milieus bestätigt sehen können und in dem manche schlecht gedachten neuprotestantischen Weichenstellungen in einer höchst ungesunden Verabsolutierung wiederkommen; Keine Dogmatik, sondern ein „Tanz des Glaubens“,[15] eine immer wieder neue Suche nach „spirituellen Erfahrungen“.[16] Es ist auffällig, dass dabei mit menschlicher Fehlbarkeit und Schuld kaum gerechnet wird. Wer sich und seine Lebensformen derart als Vorbild versteht, droht das Bild, das er zu bezeugen hat, zu verdecken.[17]
Der Weg zu Bekehrung und Umkehr ist ausdrücklich nicht der Weg, den Postevangelikale weisen möchten. An Stelle dessen bieten sie „kleine Stücke von Wahrheit“ und „spirituelle Reisen“, die den Seelenhaushalt bereichern mögen, aber keine nennenswerten Forderungen stellen. Postevangelikale begleiten Menschen auf dieser Reise mit offenem Ausgang.
III Bekenntnisklarheit oder Narrative
In der exemplarisch heranzuziehenden Emerging Church-Bewegung [18]und den verwandten Strömungen sind folgende Elemente charakteristisch, die das Grundprofil gleichsam exemplifizieren:
1. Die Dimension der Metanoia, der Umkehr und Buße wird unkenntlich gemacht. Jeder soll angenommen werden, wie er ist, auch in dem jeweiligen kulturellen und subkulturellen Kontext. Die Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Formen der Gottesverehrung wird gänzlich unterschlagen. Dies bedeutet Willkür
2. Es wird die These vertreten, dass die Offenbarungsgeschichte heute weitergeht, so dass jeder Gläubige selbst ein „History maker“ sei, der „die Geschichte mit Gott“ weiterschreiben könne. [19] Die Predigt, als Verkündigung des Wortes Gottes, wird durch solche subjektiven selbststilisierenden „Erzählungen“ verdrängt und relativiert.
3. Gefährlich sind Verwirrungen gerade dann, wenn sie Teilwahrheiten enthalten. Dies gilt etwa von der großen Rolle, die im Postevangelikalismus dem Gebet zukommt.[20] Alles Handeln soll aus dem Gebet, dem eine mystische Kraft zugesprochen wird, hervorgehen. Hier scheint die Kraft des „Betet ohne Unterlass“ (1 Thess 5, 17) in begrüßenswerter Weise ernst genommen zu werden. Doch jene Gebetshaltung verwischt allzu oft die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, und die Verpflichtung des endlichen Menschen in seiner Selbstverantwortung. Sie rechnet nicht mit der Souveränität und Unabhängigkeit des Willens Gottes. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lk 22, 42) bittet der eingeborene Sohn zum Vater.
4. Das missionale Missionskonzept setzt sich bewusst von dem reformatorischen Grundverständnis der „Missio Dei“ ab.[21] Das ganze Leben soll missionales Zeugnis sein, wobei die Mission für sich beansprucht, selbst unmittelbares Geistwirken und inkarnatorisch zu sein. Auch damit geht einher, dass nicht Gott die letztliche Autorität hat, sondern die Gemeinde oder der Gesendete[H1] .
Das soziale Engagement und die Wiederherstellung von „Justice“ wird dabei betont, vor der Hintergrundannahme der Social Gospel-Bewegung, dass schon diese Welt als „Reich Gottes“ erscheinen soll.
Bewusst werden Einseitigkeiten erzeugt: Die evangelische Missionsbewegung hat seit der Lausanner Erklärung[22] gegen die immer stärker innerweltlichen Tendenzen des Ökumenischen Rates der Kirchen und katholischerseits der Befreiungstheologie mit hinreichender Deutlichkeit gezeigt, dass die soziale Veränderung der Lebensbedingungen ein Folge aus dem Evangelium sein müsse. Und Generationen von Missionaren haben so gehandelt. Die missionalen Postevangelikalen tun so, als würde mit ihnen die soziale Verantwortung neu beginnen.
Die Suche nach einem holistisch gesamthaften Zeugnis, in dem Gebet und Handlung, Glaube und Politik sich verbinden, ist menschlich verständlich, zumal in einer tief entfremdeten Zivilisation. Es ist aber daran zu erinnern, dass dabei die Gefahr einer Überhöhung des Vorletzten zum Letzten besteht, eben weil man sich von dem von Gott selbst geforderten Letzten gerade nicht mehr leiten lässt. Damit droht das Politische theologisch aufgeladen zu werden, in einer gesinnungsethischen Tendenz, die die Unterscheidung zwischen Gottes erst eschatologisch vollendetem Reich und menschlichen Glücksentwürfen aus dem Blick verliert. Die Zwei Reiche-Lehre, und die Positionierung des weltlichen Mandats des Christen sind klare und deutliche Einreden gegen die postevangelikalen Tendenzen.
5. Bestimmte Sonderlehren werden im Postevangelikalismus isoliert und im Sinn der eigenen ideologischen Interessen überbetont: Dazu gehört der vieldiskutierte „Open theism“, der Gott als den Partner des Menschen missversteht, der auf dessen Richtungsänderungen flexibel und mit unendlicher Liebe reagiere.[23] Dabei werden bezeichnenderweise zentrale heilsgeschichtliche Tatsachen wie der Kreuzestod Jesu Christi entschärft, und eine Zerrform des gleichberechtigten Bundes Gottes mit dem Menschen vertreten. Zufälligkeit, Patchwork, die Tendenz, sich einen auf den Menschen reagierenden Gott zu konstruieren, sind charakteristische Merkmale.[24] Eine völlige Unkenntnis bzw. Ignoranz des „Magnus Consensus“ der Kirchen- und Dogmengeschichte sind für diese Tendenzen charakteristisch.
Ähnlich kontraproduktiv ist die Tendenz, eine „Generation Worship“ auszurufen, die sich ganz auf den Lobpreis und die mit ihm verbundenen ekstatischen Erlebnisse konzentriert und nicht einmal das Ganze des Gottesdienstes im Blick haben. Zu Recht hat der Praktische Theologe der STH Basel, Stefan Schweyer, die Ablösung des Worships von der Bindung an das Wort Gottes mit klaren Worten kritisiert.[25] Man sollte sich am Lobpreis freuen, sowohl – und nach wie vor mit gutem Recht – an seiner großen Geschichte von den Psalmen über die Gregorianischen Gesänge und die bedeutende Kirchenliedtradition zwischen Luther, Jochen Klepper und der Gegenwart. Doch er empfängt seine Würde und Bedeutung aus Gottes Wort und Sakrament. Völlig verfehlt wäre es, generationelle Tendenzen zu verabsolutieren und ihnen in der Theologen-Ausbildung und Gemeindetheologie Konzessionen zu machen.
Wo die Fundamente geschwächt sind, dort ist auch in den ethischen Folgeerscheinungen nichts mehr zu gewinnen. Thomlinson hält zwar fest, dass die lebenslange Ehe Zielsetzung eines christlichen Lebens sei. Er fügt aber hinzu, dass auch diejenigen, die ungeordnet, jedenfalls zusammenlebten, in vollem Sinn Christen seien.[26] Wenn dies bestritten wird, so nicht, um unbarmherzig scheiternden Lebensbünden von Christen gegenüber zu urteilen; sondern weil Schuld und Sünde als solche benannt werden müssen, um zu der Gnade Christi zu finden.
IV Kontext und Text
Dabei ist „Kontextualisierung“, bzw. „Enkulturation“ das Zauberwort. Man möchte sich in die verschiedenen Milieus, in jede Verästelung der jeweiligen „hippen“ Jugendkulturen hineinbegeben, auf den verschiedenen Milieus wie auf Wellen zu surfen. Grundsätzlich ist „Kontextualisierung“ als missiologischer Begriff nur sinnvoll, wenn es darum geht, das Eine Evangelium (Gal, 1, 7) und der eine Name(Apg. 4,12),[27] der uns rettet, mit geeigneten Mitteln zu kommunizieren. Der neue Postevangelikalismus ersetzt durch die vielen Kontexte den maßgeblichen Text des Wortes Gottes. Er vollzieht ständig Subjektwechsel, wie man sie aus der liberalen Theologie und dem Kulturprotestantismus zur Genüge kennt: Menschliches Empfinden wird zum Maßstab, nicht Gottes Wort; die menschliche Aktivität wird neben oder sogar über Gericht und Verheißung gestellt. So lässt man sich durch äußerliches Wachstum blenden. Das innere Wachstum als Vertiefung des Glaubens, das allein das äußere formen kann, bleibt dabei auf der Strecke. Man spricht werbewirksam von Niedrigschwelligkeit und verkennt grundlegend, dass Gottes Wort und Gericht nichts und niemanden unverändert belassen.
V „Das Wort sie sollen lassen stahn“. Ideengeschichtliche und theologische Beurteilung
Man kann die Strömungen des „Postevangelikalismus“ weltlich –ideengeschichtlich interpretieren (1), und man muss sie geistlich beurteilen (2).
Ad 1: Offensichtlich arbeiten sich die Autoren und Protagonisten an Defiziten ab, die sie in einer klassisch evangelikalen und stark calvinistisch geprägten gemeindlichen Herkunftskultur wahrnehmen. Die geringe historische Tiefenschärfe verführt sie aber dazu, sich nur gegenüber einem relativ engen calvinistischen bzw. evangelikalen Milieu zu orientieren. Sie übersehen dabei, dass sie de facto entscheidende Grundpfeiler der biblischen Lehre fragmentieren und außer Kraft setzen, und dass sie massiv gegen den christlichen Bekenntniskanon eines Jahrtausends verstoßen.
Hierzu ist auch zu bemerken, dass psychologisch oder soziologisch bedingte Wahrnehmungen von blinden Flecken im eigenen Milieu kein sachliches Argument sind und eine apostatische Lehre in keinem Fall rechtfertigen. Man kann allerdings an der Ausstrahlungskraft, die Stimmen des Postevangelikalismus über verschiedene Soziale Kanäle und Medien ausüben, ein Indiz dafür erkennen, dass diese Defizite gerade von jungen Evangelikalen wahrgenommen werden. Dagegen kann nur eine grundlegende biblische und systematische Lehre helfen; der Mut zu Unterweisung und Lehrklarheit bereits auf der Ebene der Gemeinde, ausgehend vom Biblischen Wort.
Ad 2: Geistlich sind die postevangelikalen Tendenzen als Verwirrung der Geister zu verstehen, als eine Verstockung bei denen, denen das Wort und die Lehre zugänglich wären und die sie im Ganzen nicht aufnehmen. Die Kategorie der „Verstockung“ kann und muss hier greifen, da die Abkehr vom ganzen biblischen Wort so offensichtlich ist wie die Abkehr von einer grundlegenden Logik. [28] Wer es besser wissen müsste, dies aber offensichtlich nicht zur Geltung bringt, hat keine Entschuldigung. Auch wenn man berücksichtigt, dass manche Postevangelikalen einen ehrlichen Missionierungs- und Zeugniswillen haben, fehlt ihnen doch die Parrhesia, der Freimut der Kinder Gottes, die es auch wagen, sich gegen den Zeitgeist zu setzen. Die starke Adaption an diesen Zeitgeist ist eine Grundmangel des Postevangelikalismus, der umso schwerer zu durchschauen ist, als mit persönlichem Engagement und mit Verve ein besseres spirituelles Leben propagiert wird. Postevangelikale Grundtendenzen kulminieren in der von Bonhoeffer so wortmächtig in Schranken gewiesenen „billigen Gnade“, [29] die weder zum Leben noch zum Sterben reicht.
Dass die Gemeinde mit solchen Mitteln verwirrt wird, ist ein ernsthaftes Problem, worauf menschlicherseits nur unbedingte Klarheit und Tiefe der Lehre, geistlich die Anrufung des Heiligen Geistes antworten können.
VI Kristallklares Bekenntnis als Desiderat
Die Christenheit steht heute vor besonderen Herausforderungen, denen man Züge des Apokalyptischen und Antichristlichen abspüren kann. Es gibt eine weltweite Agenda, die zwischen Unglauben und Aberglauben hin- und herpendelt und die massive menschliche Glücksversprechen aufmacht, ein innerweltliches Glück. Die postmoderne Mainstream-Sehnsucht richtet sich auf etwas Glück und Tiefsinn, und darauf, um alles in der Welt Gutes zu tun und dabei nicht anzuecken. Dass das einzelne Ego wichtig sein möchte, dass es in Gottes Weltplan eine Rolle spielen möchte, bringt die Verkündigung von Gesetz und Evangelium, die christliche Sendung notwendigerweise (und vielleicht immer stärker) in die Position der Gegenkultur, eines Fremdseins im Reich dieser Welt. Dies war indes seit der frühen Christenheit nicht anders. Die Herausforderung ist heute insbesondere, dass Christen in einer habituell wie selbstverständlich die christliche Botschaft ignorierenden, vereinzelt aber auch offen gegen sie eingestellten Welt gleichwohl ihr weltliches Mandat wahrnehmen sollen. Dazu gehört entscheidend, vor der Welt kein unnötiges Ärgernis zu geben; was den Mut zum vollen Evangelium in keiner Weise relativieren darf.
In dieser Welt, mit ihren Anfechtungen, Verunsicherungen, ihrem Wahrheitsrelativismus und einer global-politisch überaus ernsten Gesamtlage (man kann an die Pandemie-Krise denken, die aber nur Tendenzen klarer ans Licht bringt, die schon lange schwelen), [30] sondert sich Spreu vom Weizen. Christliches Zeugnis wird zu Recht nur beachtet werden, wenn es sich kristallklar, rechenschaftsfähig gegenüber der eigenen Zeit, aber niemals ihrem Zeitgeist hörig positioniert. Eins-Sein in der Wahrheit, zu Trost und Stärkung der Gemeinde und zum Zeichen für die Welt ist mehr denn je geboten. Wo dies geschieht, wird der Ruf zur Umkehr gehört werden und nur wo sich die christliche Gemeinde und der Einzelne unter das Gesetz stellt, wird das Evangelium als lebendige Stimme Gottes („viva vox Dei“) zu hören sein. Heute wie allezeit!
VII Epilog
Es mag der Einwand sich melden, man solle Brüder und Schwestern, die mit ihren Mitteln und Methoden Wirkung entfalten und Andere faszinieren, nicht unnötig kritisieren, weil dies spaltend wirken könne. Er ist nicht berechtigt. Denn nichts liegt mir ferner als Rechthaberei in Spitzfindigkeiten. Es geht hier aber um einen Dogmenkonflikt, der die Diakrisis pneumaton fordert. Nicht diejenigen spalten, die dies benennen, sondern diejenigen, die aus dem Magnus Consensus ausbrechen zu müssen meinen.
Fußnoten
[1] M. Radermacher und S. Schüler, Evangelikalismus zwischen Moderne und Postmoderne, Elwert, Schmelcher, Radermacher, Handbuch Evangelikalismus, Bielefeld 2017, S. 427-442, hier S. 436.
[2] Vgl. C.A. Raschke, The Next Reformation. Why Evangelicals Must Embrace Postmodernity, Gand Rapids 2004; siehe grundsätzlich: D. Pollack, Säkularisierung, ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003.
[3] J.D.Caputo, What Would Jesus Deconstruct? The Good News of Postmodernity for Church,Grand Rapids 2008. Siehe auch charakteristisch für die Nähe zu vermeintlich postmoderner Theoriebildung J.K.A. Smith, Who’s Afraid of Postmodernism?, Taling Derrida, Lyotard, and Foucault to Church, Grand Rapids 2006.
[4] Siehe Raschke, Next Reformation, a.a.O.
[5] Carrère ist Autor des großartigen Romans über Paulus und Petrus und die frühchristliche Mission: Das Reich Gottes. Berlin 2016.
[6] N. Myles, Post Evangelicalism and Spiritual Direction. A research Project, www.sgm.org.nz,S. 2 ff. Die Typologie orientiert sich stark an diesem, wie mir scheint, bis heute den Bestand wiedergebenden Papier aus dem Jahr 1999.
[7] Vgl. charakteristisch H. Hempelmann, Nicht auf der Schrift, sondern unter ihr. Grundsätze einer Hermeneutik der Demut, Lahr 2001. Siehe auch mit großer Urteilsklarheit Th. Schirrmacher (Hrsg.): Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung. Biblia et Symbiotica 2. Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 1993. Dieser Ansatz erinnert weiterhin an die pluralistische Religionstheologie, wie sie John Hick vertreten hat.
[8] Vgl. zu Barths zweideutigem Schriftverständnis B. Rothen, Die Klarheit der Schrift. Band II. Karl Barth. Eine Kritik, Göttingen 1990. Der erste Band ist kontrastiv dazu Luther Eindeutigkeit im „Sola Scriptura“ gewidmet.
[9] K. Berger, Die Bibelfälscher. Wie wir um die Wahrheit betrogen werden, München 2013, S. 22 ff.
[10] Dazu auch: Evangelical Manifesto. A Declaration of Evangelical Identity and Public Committment von 2008, das eine selbsktirische Reflexion nahelegt, aber bei weitem nicht so weit geht, wie die postevangelikalen Einlassungen. www.anevangelicalmanifesto.com
[11] Dazu H. Seubert, Europa ohne Christentum? Woraus wir im 21. Jahrhundert leben können, Friesenheim-Schuttern 2012.
[12] Vgl. hierzu Here Come the Post-Evangelicals, www.albertmohler.com/2004/02/20 mit den Hinweisen auf Thomlinson. Siehe auch S.McKnight, Five Streams oft he Emerging Church, in: Christianity Today March 8 2007-
[13] Mohler, a.a.O., S. 2
[14] Hier müssten weitere detaillierte Bestandsaufnahmen greifen, die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich sind, etwa über die implizite Theologie von „Worthaus“.
[15] Vgl. dazu S. Schäfer, Establishing a ‚Culture of Prayer‘.Holistic Spirituality and the Social Transformation of Contemporary Evangelicalism, in: G. Giordan et al (Hg.), Annual Review of the Sociology of Religion, Vol 4: Prayer in Religion and Spirituality, Liden 1013, S. 263 ff.
[16] Vgl. M. Scheer, Protestantisch fühlen lernen. Überlegungen zur emotionalen Praxis der Innerlichkeit, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften 15 (2012), S. 179 ff.
[17] Diese Formulierung verdanke ich Arnold Geiger, CEO von Nehemia Gateway.
[18] Vgl. Radermacher, Schüler, Evangelikalismus, a.a.O., S. 435 ff., siehe auch J. S. Bielo, ‚FORMED‘. Emerging Evangelicals
[19] Vgl. Radermacher, Schüler, S. 436 ff., siehe auch St. J. Grenz. Evangelical Theology.A fresh Agenda fort he 21 th Century, Indianapolis 1993, S. 37 ff.
[20] So Harald Seubert, Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft als Teil der universitären Theologie der STH Basel, Basel 2020 unter Bezug auf S. Külling, Das Übel an der Wurzel fassen. Heutige theologische Lage und praktische Vorschläge, Bettingen 1966.
[21] G. Vicedom. Missio Dei. Einführung in die Theologie der Mission, München 1958; und ders. Actio Dei. Mission und Reich Gottes, München 1975.
[22] Lausanner Bewegung in Deutschland (Hg.), Lausanner Verpflichtung, Stuttgart 2000, S. 1 ff.
[23] Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit dem ‚Open Theism‘ auf einem Studientg an der STH Basel im April 2018. Audio und Manuskripte über sthbasel.ch › offener-theismus-bericht
[24] Charakteristisch H.P. Hempelmann, Die Wirklichkeit Gottes. Band 2: Theologische Wissenschaft im Diskurs mit Postmoderne, Religionsphilosophie und Anthropologie. Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2015. Unbestritten und eine apologetische Selbstverständlichkeit ist es, dass auch evangelikale Theologie in Gespräche mit den Zeitströmungen treten muss, sie darf aber in ihnen nicht aufgehen und sich nicht von Mind Maps abhängig machen. Hier artikuliere ich deutliche Differenzen zu Hempelmann.
[25] S. Schweyer, Lobpreis ohne Bibel ist Quatsch, in: Communicatio 1 (2018), S. 18 ff.
[26]Vgl. Mohler, a.a.O., S. 4, mit weiteren Aussagen von Thomlinson.
[27]R. Scheerer: Bekennende Christen in den evangelischen Kirchen Deutschlands 1966-1991. Geschichte und Gestalt eines konservativ-evangelikalen Aufbruchs. Haag und Herchen, Frankfurt am Main 1997.
[28] R. Slenczka, Unser Gott kommt und schweiget nicht.Entscheidungen und Scheidungen, die der Dreieinige Gott durch sein Wort bewirkt und in seinem Wort zu erkennen gibt, in: Netzwerk Bibel und Bekenntnis, 2017. Abrufbar www.bibelundbekenntnis.de
[29] D. Bonhoeffer, Nachfolge. Mit einem Nachwort von E. Bethge. München 1983, S. 14 ff.
[30] Dazu mein Essay, Corona infernale, in: Die Neue Ordnung 74 (2020). S. 244 ff.